Stadt der Umstürze

NZZ Campus/ FAZ Mag. (2012)

Stadt der Umstürze

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Jede Stadt hat ihr Ereignis. Während die New
 Yorker sich erzählen, wo sie an 9/11 waren,
 fragen die Belgrader: Wo warst du, als Milošević 
gestürzt wurde?

Als Milošević gestürzt wurde,
 saß Nemanja Džuverović im Wohnzimmer seiner
 Eltern und las Rousseau.

Als Milošević gestürzt
 wurde, stand Srđa Popović vor dem Parlament 
und schrie sich die Freude aus dem Leib.

Als Milošević gestürzt wurde, saß Ana Dragić
 mit ihrer besten Freundin vor dem Fernseher
 und sah ihre Eltern in einer Wolke aus Tränengas 
verschwinden.

Drei Menschen, drei Generationen, drei Geschichten.
 Sie alle treiben ihre eigene Art von Revolution 
voran und stehen für ein neues Belgrad:
 aufmüpfig und weltoffen.

Belgrad ist im Umbruch,
 mal wieder. Die serbische Hauptstadt gleicht
 einem Narbenfeld der europäischen Geschichte.
 Kaum ein Konflikt oder eine politische Wende,
 die die Stadt nicht miterlebte. Zuletzt das dunkle
 Kapitel, das im Oktober 2000 mit dem Sturz
 Miloševićs endete. Die turbulente Geschichte hat 
sich tief in die Strukturen der Stadt eingegraben.
 Sie durchdringt Politik, Kultur und Wissenschaft. 
Trotzdem wird öffentlich kaum darüber gesprochen, 
und wenn, dann mit Pathos und Glorifizierung. 
Eine kritische Auseinandersetzung mit der 
jüngsten Vergangenheit? Sucht man vergeblich.
 Damit soll jetzt Schluss sein, findet eine neue
 Bewegung von Wissenschaftlern und Aktivisten,
 und will dem Schweigen ein Ende setzen.

Nemanja Džuverović, der Forscher

Der Ort des Antriebes liegt im Süden der Stadt.
 Eine grün lackierte Straßenbahn quietscht durch
 die Straßen der Innenstadt. Vorbei an überbewachten
 Botschaften, vorbei an der riesigen orthodoxen 
Kirche, vorbei am ehemaligen Ministerium für Inneres
 und Verteidigung, das 1999 von NATO-Jets 
zu einem verkohlten Stahlgerüst gebombt wurde,
 und das seither inmitten der Stadt – einem Mahnmal 
gleich – vor sich hin rottet.
 Die Fakultät der Politischen Wissenschaften
(FPS) ist ein unauffälliges Gebäude im Bürostil.
 Viel kaltes Licht in den Gängen, die Hörsäle von
 Holztäfelungen und Ledersitzen in warme Farben eingefasst. Gerade ist Prüfungswoche, und Nemanja 
Džuverović hat Zeit, zu reden. Sein Büro im ersten
 Stock ist winzig klein, an den Wänden ein einziges 
Bild, ein Porträt von Gandhi. Auf der Tür steht:
 Peace Studies.
 Džuverović, 30, in Jeans und grauem Blazer,
 koordiniert das Zentrum für Friedensforschung an
der Fakultät.

Er sagt: „Man muss sich mit der eigenen 
Vergangenheit auseinandersetzen, sonst 
kommt man nicht weiter.“ Und: „Wer Frieden studiert,
 studiert eigentlich Krieg.“ Der Kampf ist gerade in vollem Gang und 
gleicht einem regelrechten Putsch: Eine Gruppe 
junger ambitionierter Wissenschaftler will die 
Forschung an der Fakultät auf den Kopf stellen.
 Anstatt Theorien auszubreiten und Literatur zu
vergleichen, wie es in den letzten Jahrzehnten
 praktiziert wurde, wollen sie empirische Ansätze
 ins Zentrum rücken. Ein „Clash der Generationen“ 
sei im Gange, sagt Džuverović. Die ältere Generation,
die ihre ganze akademische Laufbahn in Serbien
 verbracht hat, gegen die jüngere, von denen die meisten ihren Master- oder Doktortitel im Ausland
 machten. Džuverović etwa hat in Oxford und 
Cambridge studiert und den pragmatisch-empirischen 
Forschungsstil der Elite-Unis an die FPS gebracht
– zur Irritation der älteren Professoren. Für die
 war eine wissenschaftliche Interpretation der Jugoslawien-Kriege 
bisher undenkbar. Hinzu kommt,
dass viele serbische Professoren auch in der Politik
tätig und deswegen doppelt vorsichtig sind, was die
 Sprengkraft ihrer Studien angeht.

Sprengkraft wie zum Beispiel eine aktuelle Studie
 der „Peace Studies“. Zwei Türen weiter sitzen Goran
 Tepšić, 26, und Nevena Kostadinović, 25, in den
 speckigen Ledersitzen eines leeren Hörsaales. Sie 
kommen eben aus dem Kosovo zurück, wo sie die 
kosovo-albanische Wahrnehmung der gemeinsamen
 Geschichte mit jener der Serben verglichen. Anhand
 von Geschichtsbüchern, Medienbeiträgen und 
Gesprächen in Fokusgruppen haben sie herausgefunden,
dass die Einwohner 
der beiden Länder komplett
 unterschiedliche Vorstellungen 
davon haben, was in
den letzten Jahrzehnten und 
Jahrhunderten geschehen ist.
„Mythen werden zu Wahrheiten
 hochstilisiert, obwohl sie 
womöglich nie passiert sind“,
sagt Tepšić. „Und diese
,Wahrheiten‘ werden nun als
 Argumente gegen das jeweilige
 andere Land verwendet.
 Es ist beängstigend.“
Die Studie soll noch
 dieses Jahr fertiggestellt werden
 und auf die herrschenden
Vorurteile und deren Ursprünge
 aufmerksam machen.
Nevena Kostadinović
 betont, dass auch sie selbst
 viele Vorurteile revidieren
 musste: „Der Austausch mit
 kosovarischen Studierenden
 über den Konflikt hat uns
 auch viel über uns selbst gelehrt.“
 Um diesen regionalen 
Austausch weiter anzuregen, ist Leiter Džuverović
 zurzeit dabei, zusammen mit den Unis Sarajevo und
 Zagreb ein Joint-MA-Programm zu etablieren, unter
 der Schirmherrschaft des Schweizerischen Nationalfonds 
und der Universität Basel. „Damit wir endlich
 eine gemeinsame Interpretation des Jugoslawienkrieges
 ausarbeiten können.“ Die Neuausrichtung
 der Fakultät sei im Gang, aber sie brauche Zeit. „Eine 
Fakultät ist wie ein Elefant. Man braucht sehr lange
 für jede Bewegung. Das ist immer noch Serbien hier“, sagt Nemanja Džuverović und fügt grinsend
 hinzu: „Zum Glück gibt es noch andere Wege.“

Srđa Popović, der Aktivist

Um CANVAS zu finden, muss man das alte Belgrad
 verlassen und über eine der großen Brücken
 fahren. Darunter zieht der Fluss Save vorbei; am
Ufer sitzen Familien und grillen. Auf der einen
Seite hat eine Reihe von langen Booten angelegt,
die nachts zu Partyschiffen werden. Dahinter breitet
 sich Novi Beograd, Neu-Belgrad, aus: eine
 Siedlung, ganz nach General Titos Vision; eine gigantische
 kommunistische Plattenbausiedlung mit
 ausladenden Alleen und großen Shoppingmalls
dazwischen. An den Blöcken haftet der spröde
 Charme postsowjetischen Minimalismus: blanker
 Beton und rostige Satellitenschüsseln.
Inmitten einer solchen
 Allee, im unteren 
Stock eines Shoppingblockes, 
liegt das kleine Büro
 der am besten vernetzten
 NGO Serbiens. CANVAS,
 Center for Applied Nonviolent
 Actions and Strategies,
 ist eine umtriebige
 Gruppe von Aktivisten und
 Wissenschaftlern, die es
 sich zur Aufgabe gemacht
 haben, den Akt des gewaltlosen
Widerstands zu erforschen 
und in der Welt zu 
verbreiten. Dafür ziehen 
sie gerade die Fäden für ein 
weltumspannendes Netzwerk
 zwischen Universitä
ten und Aktivisten.

Srđa Popović, 39,
 klappt seinen Laptop zu.
 „Ein Skype-Gespräch mit
 einem Aktivisten aus Thailand.“ 
Eines von vielen.
 Popović ist ein Kind der
Revolution und gleichzeitig
 ihr glühendster Verbreiter.
Als der damalige Diktator Slobodan Milošević
 im Oktober 2000 durch eine protestierende Studentenmasse
 aus dem Amt gehoben wurde, war
 Popović, damals 25-jähriger Biologiestudent, einer
 der Drahtzieher der Aktion. „Otpor!“, Widerstand!,
hieß die Truppe, die über Jahre hinweg skandalöse, 
unverschämt witzige und vor allem gewaltfreie Aktionen
 in ganz Serbien koordinierte – und damit
 Milošević den Sockel unter den Füßen wegzog. Auf
 den Straßen verteilten sie Flyer mit dem Kopf Miloševićs, damit „die Menschen einmal auf ihm rumtrampeln
 konnten.“ Sie stellten ein riesiges Teleskop auf, damit jeder dem
 „Absturz des Meteors Milošević“ zusehen konnte.

Zum Geburtstag
 des Diktators ließen sie eine riesige Karte aufstellen, auf der die Bevölkerung 
Milošević etwas wünschen konnte. 2000 Menschen unterschrieben
 und wünschten ihm ein One-Way-Ticket nach Den Haag,
zum Kriegsverbrechertribunal. Und als zum Millenniumswechsel
 30.000 feierfreudige Serben auf dem Hauptplatz den Countdown 
runterzählten, ließen Otpor-Aktivisten bei 0 verlauten: „Serbien hat 
nichts zu feiern“ – und schickten alle wieder nach Hause. 
Es sind solche subversiven Strategien, die Otpor und ihre
 Nachfolge-Organisation CANVAS zum weltweiten Klassenprimus
der gewaltfreien Umstürze macht.

Die serbische Revolution 
2000 ist zu ihrem Gütesiegel geworden, zum Export-Produkt. Als
 die arabischen Proteste Ägypten erreichten, waren es CANVAS Strategien,
die gegen Mubarak den Durchbruch brachten. In den
 letzten neun Jahren haben sie alle möglichen Aktivisten geschult:
Burmesen, Iraner, Simbabwer, Chinesen. Ihre Unabhängigkeit bewahren
 sie dabei, indem sie weitgehend außerhalb von politischen
 Strukturen agieren und das Glück haben, dass einer der Mitgründer
 von CANVAS inzwischen einen großen Telekommunikationskonzern
 führt und die Organisation so größtenteils finanzieren kann.

CANVAS-Leiter Popović wurde 2011 vom amerikanischen Politmagazin
 Foreign Policy zu einem der hundert wichtigsten Denker 
der Welt erkoren. Dabei tue er nichts Außergewöhnliches, wie er
 selbst sagt: „Wir sammeln Wissen und geben es weiter an diejenigen
 Leute, die am meisten davon profitieren können. Das, was
 jede Universität tun sollte.“ Doch Universitäten sind zu langsam, 
sagt Popović. Seit 2008 unterhält er
 an der FPS ein Master-Programm, doch die Kurse wurden letztes 
Jahr ausgesetzt. Grund: die Bologna-Reform. Dasselbe passierte 
mit acht anderen Studiengängen. „Und dabei gab es doch nie mehr
 zu erforschen als jetzt!“ Stattdessen treibt CANVAS andere Ideen
 vorwärts. Neben den Workshops, die sie rund um die Welt geben, 
unterhält die Gruppe Kooperationen mit acht Universitäten in Europa
 und den USA. An der renommierten School of International
and Public Affairs der Columbia University in New York etwa werden
 die CANVAS-Kurse regelmäßig zu den beliebtesten Auslandskursen
 erkoren. Zurzeit läuft dort eine umfangreiche Untersuchung
zu den Strategien der „Occupy“-Bewegung.

Das größte Ziel aber ist und bleibt, eine eigene Fakultät zu
schaffen: die internationale Fakultät für die Erforschung und Vermittlung 
von gewaltlosem Widerstand. Dafür ist CANVAS zurzeit 
mit dem Aktivisten und Wissenschaftler Marshall Ganz von der Universität
 Harvard im Gespräch, um gemeinsam ein Bildungsnetzwerk
zu schaffen. „Im 21. Jahrhundert ist der beste Weg dafür ein virtueller“,
sagt Popović und erklärt das Konzept: Die Kurse werden hauptsächlich
 über Skype und auf weiteren Online-Kanälen gegeben.
 Zweimal im Jahr trifft man sich zu physischen Workshops. Das verringert
 die Kosten – für die Studierenden und für CANVAS – und erlaubt
 es, Studierende auf der ganzen Welt zu unterrichten. Als lokale
 Basis will Popović aber weiterhin auf die Fakultät der Politischen
 Wissenschaften in Belgrad setzen. Für den Frühling 2013 sind neue
 Kurse über das Erforschen von Machtstrukturen geplant. Neben der
 Wissenschaft will CANVAS in Zukunft vermehrt mit Künstlern arbeiten,
 „um neue Wege der Vermittlung zu erarbeiten.“ Künstlern
 wie der jungen Serbin Ana Dragić.

Ana Dragić, die Künstlerin

Ana Dragić sitzt in einer der vielen schummrigen
 Bars Belgrads und raucht. Sie war elf Jahre alt, als
 sie ihre Eltern im Fernsehen sah, wie sie dabei waren,
 Milošević zu stürzen und
 dabei von Tränengas umhüllt
 wurden. Seither sei in Belgrad
viel passiert, sagt sie. Die 
23-jährige Studentin trägt ein
 kurzes Kleid und ist sorgfältig 
geschminkt; eine selbstbewusste
Frau, die während
 des Gespräches mehrmals 
lauthals auflacht. Sie hat an
der FPS studiert und macht
 nun einen Master in Kulturmanagement.
Gleichzeitig
 organisiert sie eine Reihe von 
Projekten und Ausstellungen, 
immer mit dem Ziel, „das
Selbstbild der Menschen auf 
den Kopf zu stellen“, wie sie
 selbst sagt. Ihr erfolgreichstes
 Projekt war „Face the Reflection“.
Das Konzept: In Belgrad und in der kosovarischen
 Hauptstadt Priština wurden je fünf Fotografen
 dazu angehalten, zehn Wochen lang jeweils ein Foto
 als Reaktion auf ein vorgegebenes Foto einzusenden. 
Dabei konnte jeder der Fotografen
 einmal ein Thema als
 Foto vorgeben. Jede Woche
wurden die Bilder auf eine
 Webseite geladen, am Ende
 gab es in beiden Städten eine
 Ausstellung. Der Clou an
der Sache: Die Fotos hatten 
keine Beschriftung. Niemand
 wusste, welches Foto
serbisch und welches kosovarisch
 war. Die Städte und
 die Menschen auf den Fotos
 waren kaum mehr auseinanderzuhalten.
Für viele Besucher 
der Ausstellung ein 
tief greifendes Erlebnis, wie
 Dragić erzählt. Für viele der 
Fotografen war es die erste
Auseinandersetzung mit der anderen Nation – und dass kosovarische Künstler
in Belgrad ausgestellt wurden, war bis dahin nicht
 vorstellbar. Zwar gab es harsche Drohungen von 
serbischen Nationalisten, aber Dragić ließ sich nicht 
einschüchtern. Mit Erfolg. „Bei der äußerst schwierigen
 Beziehung beider Länder stellte sich die Kunst
 als die der richtige Vermittlerin heraus.“

Mittlerweile
 füllt sich die Bar mit Menschen, und die Bässe wummern
 jeden Gesprächsfetzen weg. Die ersten Leute
steigen auf die Tische und beginnen zu tanzen. Ana
 Dragić verabschiedet sich. Sie will mit ihren Freunden
 noch in einen der Schiffclubs an der Save, wie
 sie es fast täglich tun. An solchen Orten spüre man
 den Zusammenhalt, sagt Dragić, denn „vieles ist noch
 nicht gut.“ Noch immer versuchten viele Politiker, die
Vergangenheit zu mystifizieren. Noch immer werde
 versucht, die serbische Geschichte gegen andere auszuspielen.
„Wir müssen mit der Vergangenheit klarkommen.
 Nur so können wir nach vorn sehen“, ruft 
sie durch die rauchgeschwängerte Atmosphäre. Ein 
Satz, der auch vom rebellischen Forscher Džuverović
 oder vom Umsturzprediger Popović stammen könnte.
 Zwölf Jahre nach Milošević kämpfen sie noch immer
 gegen dessen Geist. Jeder auf seine Weise, aber alle 
mit demselben Ziel: mit dem Krieg endlich Frieden
 zu schließen.

Photos von Matteo Gariglio.

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