Der Rettungs-versuch

Zalle*-Magazin (2009)

Der Rettungsversuch

Zalle*-Magazin (2009)

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Jeder liest sie, doch niemand zahlt mehr dafür. Neuigkeiten sind durch Pendlerzeitungen zur Gratisware geworden. Jetzt hat der Journalismus ein Problem. Ein Rettungsversuch.

Die junge Frau schüttelt nur den Kopf und stolziert an mir vorbei. «Dummkopf!» plären ein paar Schuljungen und grinsen einander an. Natürlich meinen sie mich. Trotzdem bleibe ich hier stehen, auf der Passerelle am Basler Hauptbahnhof. Wo im Winter der Marroni-Verkäufer seine heissen Häppchen anpreist und manchmal der bärtige «Surprise»-Verkäufer das immer gleiche Wort posaunt, versuche heute ich mein Glück: «20 Minuten – nur ein Franken!»

Der Stapel liegt schwer auf meinem Arm. Gleich dreissig der frischgedruckten «20 Minuten» habe ich mir gehamstert und sie auf meinem linken Arm zu einem Fächer arrangiert. Ich habe Glück. Das Konterfei von Brad Pitt ist auf der Titelseite. Brad zieht immer. Eigentlich. Doch der Pendlerstrom fliesst an mir vorüber, lässt mich links und rechts liegen, um sich fünf Meter weiter bei den dunkelblauen Boxen gratis zu bedienen. Mein Angebot quittieren die meisten mit ungläubigem Kopfschütteln. Es wird wohl noch ein langer Tag.

Plötzlich bleibt jemand vor mir stehen. Eine Frau Mitte Zwanzig, mit Hornbrille und übergrossem Strickpullover, blickt mich mit grossen Augen an. Zögerlich kramt sie ihrer Brieftasche und streckt mir mit ernster Miene einen Fünfliber entgegen. Ein leichtes Zucken durchfährt sie beim Anblick des Stapels «20 Minuten.» «Oh, ich dachte, Sie verkaufen Surprise» flüstert sie und steckt entschul-digend die Münze wieder ein, bevor sie in der Pendlermasse verschwindet. Vielleicht dachte sie, ich wäre ein weiteres Opfer der Krise. Genaugenommen bin ich das auch. Denn ihretwegen bin ich hier.

Es ist die Zeitungskrise, die mich an den Bahnhof Basel bringt. Den Zeitungen geht es schlecht, lässt sich in ihnen nachlesen. «Qualitätsjournalismus am Spendentropf» titelte die «Sonntagszeitung» neulich. Daran ist auch der Wirtschaftskollaps schuld.
Aber die Krise gibt es schon länger.
Spuren von ihr sind auch im Passerellen-Kiosk «Presse und Buch» zu finden. Statt einer breiten Auswahl internationaler Zeitungen empfangen den Kunden am Eingang nun Hochglanzmagazine und Taschenbücher. «Brad Pitt an der Art Basel» steht fett auf den Titelseiten der Tagespresse, doch die Leute wissen dies bereits. Sie wissen es durch die handlichen Pendlerzeitungen, die quer durch die Bahnhöfe und Züge, Busse und Trams verstreut liegen. Sie wissen es, weil der grosse LED-Bildschirm, der über der Treppe der Passerelle hängt, die neusten Schlagzeilen zur Schau trägt. Sie wissen es von den Push-Nachrichten auf ihren Handies oder aus dem Internet. Die meisten haben für diese Erkenntnis keinen Rappen bezahlt. «Weshalb?» habe ich mich gefragt und beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Darum stehe ich jetzt hier und lasse mich beschimpfen. Um den Journalismus zu retten.

Wie ein Hai umkreist mich eine Dame und kommt immer näher. Ihr ferrarirotes Deux-Pièce und der knallige Lippenstift haben eine alarmierende Wirkung auf mich. Ihr schütteres, grau-meliertes Haar ist zu einem kunstvollen Knoten drapiert, ihre Augen sind von kleinen Fältchen umringt. Ein süsslich-schweres Parfüm begleitet ihren Schwall an Worten: «Das find ich denn ein Frechheit! Geld verlangen, wo’s die doch gratis gibt!» Die Stimme überschlägt sich im Eifer. Ihre Haut hat inzwischen die Farbe des Kostüms angenommen.

«Sind Sie denn nicht bereit, für Informationen zu bezahlen?», versuche ich mich zu verteidigen. «Nein!» bellt sie. «Nicht wenn sie gratis sind! Wenn man zahlen will, kauft man sich eine richtige Zeitung.»
Aber was, wenn alle so denken wie Sie? Dann wird es bald keine Zeitungen mehr geben. «Ach was! Jetzt gibt es sie ja noch!»
Das Klackern ihrer Absätze ist noch zu hören, als sie bereits hinter der Treppe verschwunden ist.

Ein älterer Herr hat der Diskussion zugehört und lacht mir zu. Im breiten Berner-Dialekt beklagt er den Wandel der Zeitungen. Es schmerze ihn, «seinen Bund» in den Händen der Zürcher Verlagsgruppe Tamedia zu sehen: «Alles wird zum Einheits-brei. Wer will den noch lesen?»
Im Falle von 20 Minuten sind es über eine Million Schweizer, die den lesen. Das besagen zumindest die neusten Statistiken. Sie besagen aber auch, dass die Pendlerzeitungen vor allem in den Seiten Sport und People gelesen werden und dass ihre Glaubwürdigkeit kleiner ist als jene von sogenannten «Qualitätszeitungen». Gratis ist im Volksmund also noch immer weniger wert – aber für sich selbst offenkundig gut genug.

Ein schnellfüssiger Anzugträger hält mein Angebot für einen schlechten Scherz und reisst mir die Zeitung aus der Hand – einmal gratis, immer gratis. Das war unmissverständlich.

An Lesenden mangelt es also nicht. Nur zahlen will niemand mehr. Wer finanziert dann aber die Journalisten und Redaktoren, das Papier und die Druckerschwärze, die Juristen und Korrektoren, wenn durch die Finanzkrise selbst die Werbung schwindet?

Mit Rastas auf dem Kopf und der «Wochenzeitung» unter dem Arm drückt mir eine junge Frau zwei Franken in die Hand und zwinkert verschwörerisch. Als ich ihr zwei Exemplare entgegenstrecke, winkt sie lachend ab. «Ich finds ja cool, was du da machst, aber diesen Schund nehme ich nicht mit!» Ähnlich reagiert ein Jugendlicher mit gestylter Gel-Frisur und überdimensionaler Sonnenbrille: «Weil du ein geiler „Siech“ bist!»

Journalismus alleine durch Spendengelder finanzieren? Keine schlechte Idee. Eine andere legt die schicke Mittvierzigerin nahe, die mir einen Zweifränkler zusteckt. «Das nenn ich mal ein gelungenes Kunstprojekt!» lacht sie.
Journalismus als Kunstform? Da würde sogar Brad Pitt mitmachen.

Langsam beginnt mein Arm zu schmerzen. Nach zwei Stunden kratzt die Stimme und der Boden wird härter und härter. Die grosse LED-Tafel hinter mir hat schon drei Mal ihre Schlagzeilen geändert. Meine sind die gleichen geblieben, nur mein motivierendes Lächeln ist unter dem kühlen LED-Schimmern vergangen. Der Stapel unverändert, ausser jenem Exemplar, das mir ein Banker weggerissen hat. Bisherige Ausbeute: Fünf Franken, ein hysterischer Anfall und zahllose böse Blicke.

«Wird wohl nichts mehr mit einem neuen Geschäftsmodell heute», denke ich mir gerade, da bellt eine hohe Stimme durch die Bahnhofshalle und überschlägt sich. «Das ist er!» In zügigem Tempo sehe ich drei Herren auf mich zumarschieren, angeführt von jener cholerischen Dame im Deux-Pièce. Noch immer pulsiert ihr Gesicht. Mit ernster Miene schreitet sie auf mich zu und bleibt zwei Meter vor mir stehen. Links und rechts von ihr türmen sich zwei Securitas-Angestellte auf und verschränken ihre Arme. Keuchend tritt der SBB-Sprecher von zuhinterst an mich heran und nimmt mich ins Verhör. Dunkle Schweissflecken säumen sein Hemd, «Sie wissen, dass dies verboten ist?», sagt er mit ernster Miene. Die Frau scheint zufrieden, die Securitas eher amüsiert. Ich nicke reuig und komme mit dem Versprechen davon, das «Hausieren» am Bahnhof in Zukunft zu unterlassen.

Draussen steht der bärtige «Surprise»-Mann an der Sonne. Sein Stapel ist verschwindend klein. Ein wenig neidisch kaufe ich ihm ein Heft ab. «Na, wie läuft das Geschäft?» frage ich. «Leidig», brummt er und zuckt mit den Schultern. «Die Krise halt.» Ich weiss jetzt, was er meint.

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